Verflechtungen von Gewalt, Geschlecht und Alltag im Europa des „langen 20. Jahrhunderts“
Gewalt stellt, auch jenseits von kriegerischen Auseinandersetzungen, eine anthropologische Konstante in Gesellschaften dar, die sich mitnichten im Zuge einer „Zivilisierung“ verringert hätte oder nur mehr als Staatsgewalt in Erscheinung tritt, wie z.B. Norbert Elias‘ „Zivilisierungsthese“, (Elias 1978) nahelegt. Jedoch unterliegen Gewaltphänomene hinsichtlich ihrer Wahrnehmung, Skandalisierung, Funktion, Legitimität / Illegitimität, Kriminalisierung, usw. durchaus Veränderungen. So wurde die Vergewaltigung von Prostituierten bis Mitte des 19. Jahrhunderts in Zürich nicht als „Notzucht“ geahndet, sie war schlichtweg kein Straftatbestand (Loetz 2014). Andererseits wird verbale Belästigung von Frauen* im öffentlichen Raum, das sogenannte „Catcalling“, erst seit jüngster Zeit als Akt der Gewalt / Übergriff konzeptualisiert. Was als Gewalt wahrgenommen und geahndet wird, ist daher immer zeitlich, räumlich, gesellschaftlich situiert und unterliegt Veränderungen.
Diese Veränderungen geben Aufschluss über (sich verändernde) Moralvorstellungen, Werte und Regeln des Zusammenlebens von Gesellschaften. Und trotzdem liegen „zum Wandel der Einstellungen, zur Entwicklung des Umgangs mit Gewalt und zur Genese von Gewaltphänomenen und ihren Formen über lange Zeiträume bislang kaum wissenschaftliche Erkenntnisse vor“, wie Eva Labouvie (2023:14) in einem aktuellen Forschungsüberblick schreibt. Gender-sensible Untersuchungen, wie sie in der sozialwissenschaftlichen Gewaltforschung inzwischen etabliert sind, stellen trotz einiger Arbeiten (vgl. z.B. Herzog 2009, Bourke 2010, Loetz 2014) in den Geschichtswissenschaften die Ausnahme dar. Dies gilt insbesondere für die Untersuchung vergeschlechtlichter historischer Gewaltphänomenen aus einer Perspektive zu Friedens-/Nicht-Kriegszeiten.
Das Projekt zielt darauf ab, Gewalt- & Geschlechtergeschichte zu verbinden, fokussiert dabei vor allem auf alltägliche Gewaltkulturen und -praktiken sowie deren Veränderlichkeit und strebt darin eine europäisch vergleichende Perspektive in der longue durée an. Die Verknüpfung von Geschlechter- und Gewaltgeschichte erfolgt anhand des Untersuchungsgegenstandes von Gewalt an Frauen* außerhalb kriegerischer Auseinandersetzungen. Der Themenkomplex „Gewalt an Frauen*“ umfasst hierbei sowohl „klassische“ vergeschlechtlichte Gewaltphänomene wie körperliche/häusliche/sexuelle Gewalt, wie auch ritualisierte und habitualisierte, alltägliche Gewaltphänomene, die sich beispielsweise in Bräuchen und Ritualen wiederfinden lassen.
Hierbei soll die sich verändernde Wahrnehmung und Rezeption von häuslicher, sexualisierter und alltäglicher Gewalt untersucht werden sowie staatliche oder individuelle bzw. aktivistische Reaktionen auf Phänomene vergeschlechtlichter Gewalt. Dies können emanzipatorische, wie z.B. das Konzept und Phänomen der „Feministischen Gegengewalt“ inklusive deren gesellschaftliche Wirkmächtigkeit (z.B. in der Frauenhausbewegung) sein wie auch juristische (strafrechtliche Verfolgung, etc.). Daneben sollen Fragen, wie sich diese Diskurse materialisierten, beispielsweise im Stadtraum in Form von Frauenhäusern, oder Ledigenhäuser für alleinstehende Frauen während der Zeit des „Roten Wien“ oder der Konstruktion sog. (imaginierter) „Angsträumen“, gestriffen werden.
Das angestrebte Projekt stößt damit in zwei Leerstellen – gender-sensible Perspektiven auf Gewaltphänomene sowie die grundsätzliche Frage nach der Veränderlichkeit der Wahrnehmung, Rezeption, Skandalisierung, Tabuisierung, Ahndung oder Akzeptanz von Gewalt.
Konzept / Methodik
Um das gesamte Spektrum der Gewalt erfassen zu können, also nicht nur körperliche Übergriffe zu untersuchen, soll mit einem erweiterten Gewaltbegriff gearbeitet werden, der in der Lage ist, auch Invektiven (Ellerbrock und Fehlemann 2019) oder epistemische Gewalt (Spivak 1988/2008) als Gewalt zu theoretisieren und so Phänomene wie Rituale und Bräuche oder alltägliche verbale Übergriffe als Gewalt zu fassen und zu untersuchen, die ich in Anlehnung an „petty crime“ oder „petty corruption“ als „petty violence“ bezeichne.
Fragestellung
Konkret möchte sich das Projekt anhand von zwei Länderstudien, die in der Perspektive einer longue durée durchgeführt werden, unter anderem folgenden Fragen widmen:
- Welchen Stellenwert hatte vergeschlechtlichte Gewalt in den jeweiligen Gesellschaften?
- Was verstanden die Zeitgenoss*innen in den jeweiligen Kontexten und Orten unter (vergeschlechtlichter) Gewalt? Was galt als akzeptiertes, „normales“ (genderkonformes) Verhalten, was als grenzüberschreitend? Wie hing dies mit Aspekten wie sozialem Status des Opfers/Täters oder stereotypen Täter-Opfer-Bildern zusammen?
- Wie veränderten sich Vorstellungen davon, was als Gewalt gilt und welche Aussagen lassen sich dadurch über die jeweiligen Gesellschaften treffen?
- Zu welchem Mittel wurde Gewalt eingesetzt, unter welchen Umständen galt sie eventuell als legitim? Im Zusammenhang mit dieser Frage soll auch Konzept und Praxis der feministischen Gegengenwalt näher beleuchtet werden, ein von Frantz Fanons Konzeption inspirierter, emanzipatorischer Gewaltbegriff der Neuen Frauenbewegung der Sechziger- und Siebzigerjahre (Bielby 2017).